Interview Kara Zambak

EIN GESPRÄCH MIT MERIH GÜNAY ÜBER DAS ABENTEUER SCHREIBEN
(erschienen in der Literaturzeitschrift Kara Zambak)
(aus dem Türkischen von Hülya Engin)
Zerrin Oktay:
Wer ist Merih Günay? Können Sie uns etwas über sich erzählen?
M.G.
Ich bin der mittlere von drei Söhnen eines Schneiders aus Iskenderun, der, fast noch ein
Kind, mit seiner Familie nach Istanbul zog und einer Istanbuler Hausfrau. Nach einer
nicht gerade erfolgreichen und ziemlich kurzen Schulzeit versuche auch ich mich, von
Kindesbeinen an fast, über Wasser zu halten, indem ich verschiedenen Tätigkeiten
nachgehe, die man ohne eine abgeschlossene Ausbildung machen kann. Auch hier kann
man nicht sagen, dass ich einen nennenwerten Erfolg erzielt hätte. Mein Leben besteht
aus mit Mühe und Not, mit Ach und Krach ergatterten Bruchstücken von Leben und aus
diesem Wenigen bilde ich mein Schreibabenteuer.
Z.O.
Wie begann Ihre Leidenschaft zu schreiben? Was hat Sie bewogen, sich nicht etwa durch
Malen, Bildhauerei oder einer anderen Kunstform auszudrücken, sondern durch das
Schreiben?
M.G.
Anfang 30 begann ich mit einer Kurzgeschichte. Ich hatte nicht den Luxus, mir eine
Kunstart auszusuchen. Es war nach einem meiner beruflichen Misserfolge.
Unüberwindbare Hindernisse, unlösbare Schwierigkeiten, Einsamkeit. Denn ich bin
nicht gut darin, Freundschaften zu schließen und zu pflegen. Das war ich nie. Ich bin
unerschrocken, wenn es darum geht, initiativ zu werden. Aber ich bin nicht kommunikativ, eher wortkarg. Papier und Stift hatten keine Probleme mit diesen Eigenschaften. Und ich habe mein Bestes gegeben.
Z.O.
Wie würden Sie die Übergänge der Gefühlszustände beschreiben, vom Impuls zu schreiben, der Phase des Scheibens und nach Fertigstellung?
M.G.
Ich schreibe nicht häufig, aber schnell. Alles entsteht in kürzester Zeit. Den plötzlichen,
aufregenden Impuls zu schreiben, kann ich nicht so leicht beschreiben, aber wenn der
letzte Punkt gesetzt ist, fühle ich eine Erschöpfung. Es mag übertrieben klingen, aber
meistens nehme ich während des Schreibens dramatisch ab. Während ich “Streifzüge”
schrieb, waren es beispielsweise neun Kilo. Die Hose rutschte mir von den Hüften, die
Brille von der Nase. Während ich “Hochzeit der Möwen” schrieb, sah ich wirklich
besorgniserregend schlecht aus. Die gesamte Schreibphase hindurch stand ich wie
neben mir.
Z.O.
Zu welcher Tageszeit schreiben Sie am liebsten?
M.G.
Wer wie ich schreibt, hat kaum eine Wahl, was die Arbeitszeit angeht. Sobald man das
Leuchten sieht, muss man sogleich in die Tasten hauen und den letzten Punkt gesetzt
haben, bevor es wieder dunkel wird und erlischt. Das muss man begriffen haben. Wenn
man nicht entsprechend reagiert, kann es sein, dass diese Gnade, diese Gunst sich einem
nie wieder zeigt.
Z.O.
In einer Reportage mit der Zeitschrift Varlık war zu lesen, dass Sie erst zu lesen begonnen
haben, nachdem Ihre ersten drei Bücher veröffentlicht waren. Was könnte Sie davon
abgehalten haben, zu lesen, besser gesagt, sich mit Literatur zu beschäftigen?
M.G.
Das Leben behandelt die Menschen nicht gleich. Wir starten nicht unter gleichen Bedingungen. Meine Familienkultur ist nicht besonders ausgeprägt, weil ich das Elternhaus früh verließ. Und die Schulzeit währte, wie ich bereits sagte, nicht lang genug. Das Leben auf der Straße aber nährt sich nicht aus Büchern. Sagen wir der Einfachheit halber: Ich habe keine Lesegewohnheit entwickeln können.
Z.O.
Ich habe eine Frage zu Ihrem Buch “Möchtegerndichter”. Das Buch war kaum eine Woche
in den Regalen der Buchhandlungen, als in der Presse äußerst positive Besprechungen zu
lesen waren. Würden Sie uns beschreiben, wie Ihnen in diesen Tagen zumute war?
M.G.
Das ist sechzehn Jahre her. Damals fanden Bücher in den Medien mehr Beachtung als heute. Ich denke, dass diese Beachtung mehr mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung zu
tun hat als mit dem Buch selbst. Es wird immer schwieriger zu veröffentlichen und es mit einem Buch in die Regale der Buchhandlungen zu schaffen. Das Angenehme und Lustvolle an der ganzen Sache ist das Schreiben. Richtig schwierig wird es, wenn die Arbeit abgeschlossen ist. Denn Sie möchten sie in Buchform sehen. Die Amerikaner sagen: “Verlegt werden ist alles”. Es gibt Menschen, die sagen: “Ich hab ein tolles Buch
geschrieben. Und was jetzt?” Meine Antwort ist: “Ich glaube dir, dass du ein
hervorragendes Buch geschrieben hast, aber noch eher glaube ich daran, dass du es niemals wirst veröffentlichen können.” Deshalb stimme ich Adalet Ağaoğlu zu, die schreibt: “Die Welt der Literatur öffnet niemandem ihre Türen so ohne weiteres”.
Z.O.
Nach “Möchtegerndichter” folgten in kurzer Folge “Hochzeit der Möwen” und “NICHTS”.
Sie erhielten Auszeichnungen, Ihre Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt. Und dann
plötzlich hörten Sie mit dem Schreiben auf. Ich möchte nicht in Ihrem Privatleben herumwühlen, aber dennoch komme ich nicht umhin, mich zu fragen, warum Sie Ihr
Abenteuer als Schriftsteller in einer solch produktiven Phase abgebrochen und den Stift aus der Hand gelegt haben. Ja, warum?
M.G.
2010 erkrankte ich schwer an Tuberkulose. Durch die Krankheit selbst, wohl auch durch
die starken Medikamente, die ich einnehmen musste, hatte ich lange Zeit keinen klaren
Kopf. Dreizehn Jahre lang schrieb ich keine einzige Zeile. Dann auf einmal zeigte sich mir
das Licht wieder, diesmal in anderer Form, und ich schrieb hintereinander drei Kurzromane/Novellen. Zwei wurden veröffentlicht, eine ist noch in der Warteschleife.
Darüber hinaus schreibe ich weiterhin Kurzgeschichten und sammle sie.
Z.O.
Wenn Sie erlauben, würde ich gerne mit Ihnen näher auf Ihre Schreibtechnik eingehen: Ihr
Stil ist kristallklar und schlicht, präzise, nüchtern. Das ist ein Stil, der in der Tat nicht jedem
Schriftsteller gelingt. Beim Lesen kann man den Eindruck gewinnen, es sei einfach. Offen
gesagt, denke ich, dass ein Leser sich zwischen Ihren Zeilen verlieren und denken könnte:
“Ich könnte auch Schriftsteller werden”. Dabei erfordert es eine wahre Meisterschaft, einen
scheinbar banalen Vorgang schnörkellos, ohne Umschweife, ohne jegliche Ausschmückung
zu beschreiben, so wie er ist. Nicht mehr, nicht weniger. Die Tiefe erschaffen Sie mit Ihrer
Fähigkeit zu Ironie. Bis heute habe ich keine andere Munition entdeckt, die Sie außer der
Ironie einsetzen. Dennoch bin ich in Ihrem letzten Buch “Streifzüge” einer anders gearteten
Linie begegnet.”Streifzüge” war für mich wie ein Tunnel, durch den kein Zug fährt.
Tatsächlich ereignet sich in diesem Ihrem Werk nichts Aufregendes. Es gibt keine Intrigen,
keine Besorgnis, keine Melancholie, gar nichts, nichts außer Liebe. Interessanterweise gibt
es in diesem Buch auch keine Ironie. Sie erzählen hier nur von der Liebe und dem
Liebeszustand eines Paares und schaffen es dennoch, dass man das Buch zu Ende liest, ohne es aus der Hand zu legen. Wir Leser sind an Hindernisse, dornige Wege, irreparable Fehler gewöhnt, an Liebende, die nie zueinander finden und allerlei Widrigkeiten. Ich habe
einfach nicht verstanden, wie es möglich ist, dass sich dieses Buch in einem Rutsch lesen
lässt, obwohl nichts davon darin vorkommt. Können Sie ein wenig auf diesen Punkt
eingehen? Was für eine Technik haben Sie angewandt? Wie ist es Ihnen gelungen, einen
Roman über einen Gefühlszustand mit derart leichter Feder zu schreiben? Wohlgemerkt
etwas, was bislang keinem Schriftsteller gelungen ist. Ich für meinen Teil hätte nicht einmal den Versuch gewagt.
M.G.
Nach meiner Ansicht ist das kein Fehlurteil. Ich bin davon überzeugt, dass jeder, der die Lust dazu verspürt, ein gutes Buch schreiben kann. Oder ein paar. Auf dem Deckblatt der
Zeitschrift Afrodisyas las ich einen Satz: “Wie etwas erzählt wird, ist sehr sehr wichtig,
aber auch was erzählt wird!” Sowohl mit schlichten Sätzen als auch mit schnörkeligen,
kunstvollen; mit oder ohne Schilderungen, mit einer magischen Sprache wie Marquez oder aber mit einer schlichten Sprache wie Fante kann man erzählen. Alles ist möglich …
Es gibt keine Schranken. Ich denke, dass jeder über ausreichend Stoff verfügt, aus seinem Leben oder seiner Vorstellungswelt. Schreiben können ist die eine Sache, aber
veröffentlicht werden war auch für Orhan Pamuk nicht einfach, auch für Knut Hamsun nicht. Und zu Ihren Fragen zu “Streifzüge”: Auch ich finde, dass es anders ist als die anderen Bücher. Genau genommen gilt dies auch für seinen Vorgänger “Tatlı Çikolata” und gleichermaßen für “Gecenin Sonuna Doğru” (Gegen Ende der Nacht), das wohl im
November oder Dezember erscheinen wird. Dies ist eine Trilogie, deren Bände aber
auch einzeln oder in anderer Reihenfolge gelesen werden können. Und jeder unterscheidet sich im Geist und der Erzähltechnik. Es ist nicht von herkömmlicher Art, wird nicht gleich Anklang finden, aber das Wichtige in der Literatur ist es, etwas Bleibendes zu erschaffen. Ich bin sicher, dass “Hochzeit der Möwen” und diese Trilogie Bestand haben werden.
Z.O.
Haben Sie Empfehlungen an angehende Schriftsteller?
M.G.
Sie sollten sich von Anfang an im Klaren darüber sein, dass Literatur einen langen Atem
braucht und in der Regel schnellen Entwicklungen verschlossen ist. Siehe die Beispiele
Orhan Pamuk und Knut Hamsun. “Cevdet Bey ve Oğulları” (Cevdet und seine Söhne) und
“Hunger”. Zwei wunderbare Werke. Diese beiden Romane, von denen heute in der ganzen Welt mit Bewunderung gesprochen wird, wurden in der Zeit ihrer Entstehung von angefragten Verlagen nicht für veröffentlichenswert befunden. Wenn die Beiden es dabei belassen hätten, würden wir heute wohl nicht einmal ihre Namen gehört haben.
Auch wenn Schreiben und Veröffentlichtwerden wie Geschwister erscheinen, sieht die
Wahrheit anders aus. Dennoch steht am Anfang das Schreiben. Ich würde sagen:
Schreibt, wenn ihr an eure Geschichte und eure Feder glaubt, aber schreibt im
Bewusstsein, dass es viele gibt, die schreiben, aber wenige, die veröffentlicht werden.
Selbst wenn’s niemand liest – ich tue es. Einen Leser haben die jungen Kollegen schon …

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