Interview – Literaturzeitschrift Varlik

Interview mit Merih Günay
Literaturzeitschrift VARLIK


“Je mehr wir reduzieren, desto mehr sehen und hören wir.”
Berna Erbaş Inan Übersetzung: Hülya Engin


“Streifzüge” ist eine Arbeit, die wir als Kurzroman oder lange Erzählung bezeichnen
könnten … Würden Sie uns erläutern, warum Sie sich für diese in der türkischsprachigen Literatur eher seltene, an Turgenjew erinnernde Form entschieden haben?

Ich mag es kurz und intensiv. Wir sprechen und hören mehr als nötig. Das ist auch eine
Art Verschmutzung. Ich bemühe mich, mein Anliegen in möglichst wenig Zeilen auszudrücken.
Auch meine Leselektüre suche ich nach diesen Kriterien aus. Wenn ich denn fündig werde… Ich finde, je mehr wir reduzieren, desto mehr sehen und hören wir.

Auch vor “Streifzüge” gab es in ihren Werken bereits Anzeichen für Ihre Vorliebe für die
Kurzform. Man könnte auch sagen, dass “Hochzeit der Möwen” gewissermaßen deren Vorbote war.
Dieser Roman wurde auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht und erhielt in den
deutschsprachigen Medien viel Lob und Anerkennung. Wie wir erfahren haben, wurde es gerade auch ins Farsi übersetzt. Wie haben türkische Leser und die türkische Literaturwelt dieses Werk aufgenommen?

Gar nicht. Das Buch fand keinen Eingang in die Regale der Buchhandlungen, fand keine
Erwähnung im Feuilleton oder in Buchvorstellungen. Lediglich einige Internetseiten zeigten den Einband, in ein paar Fachzeitschriften erschienen Artikel darüber. Das war’s.

An welchem Punkt befindet sich Ihrer Meinung nach Ihr Schreibabenteuer, das vor fünfzehn Jahren mit “Möchtegern Dichter” begann, ich meine, heute innerhalb der türkischsprachigen Literatur?

Wo ist der Platz der einhundertfünfzigjährigen modernen türkischen Literatur heute
innerhalb der Weltliteratur? Dementsprechend kann mich die Antwort auf diese Frage, wie
immer sie ausfallen mag, nicht befriedigen. Und sollte auch niemanden, der sich seiner Feder sicher ist.

In meinen bisherigen Fragen bat ich Sie, über Ihre Werke zu sprechen. Dürfte ich Sie nun
bitten, uns ein wenig über sich zu erzählen? Wer ist Merih Günay?

Einer von Millionen, der als einzigen Erfolg im Leben vorweisen kann, mit Ach und Krach
über die Runden zu kommen. Das Leben und ich – wir standen schon immer auf Kriegsfuß
miteinander. Denn ich habe es nie wirklich angenommen. Ich würde es zweifellos vorziehen, nie auf diesen Planeten gekommen zu sein. Mehr Nennenswertes habe ich über mich selbst nicht zu sagen.

Kehren wir von Ihren früheren Werken und Ihrer Person nun zurück zu Ihrem bei Elfene
Dünya erschienenen Werk “Streifzüge”. In Ihrem kurzen, in einem Atemzug zu lesenden Roman gibt es keine herkömmlichen Charakterbeschreibungen. Zwei Personen unterhalten sich. Es gibt auch keine Begegnungen. Als sei das Thema statisch. Aber der Leser erschafft die Charakter selbst in seinem Kopf, setzt sie einander gegenüber und kann Personen und Ereignisse bis zum Schluss gespannt beobachten. Wie ist es Ihnen gelungen, den Leser mitzureißen?

Ich habe nicht an den Leser gedacht. “Streifzüge” war für mich meine eigene Reise. Denn
nach “Hochzeit der Möwen” hatte ich zwölf Jahre lang keine einzige Zeile schreiben können. Ich war derart pleite, auf eine einzige Zigarette angewiesen, derart bemitleidenswert und derart einsam, als ich dieses Buch schrieb. Ich schleppte mich schwerfällig durch die Straßen, stieß gegen parkende Autos und Fahrräder, gegen die Ranzen von Schülern, stolperte über die Füße anderer Leute. Ich war ungewaschen, Katzen ließen bei meinem Anblick von den Müllcontainern ab, Hunde griffen mich an, Polizisten hielten mich auf Schritt und Tritt an und stellten Fragen, die meinem Zustand keineswegs zuträglich waren … Als ich mit dem Buch fertig war, wollte ich nie wieder schreiben. Als ich Jahre später wieder begann, also mit “Streifzüge”, verlor ich neun Kilo. Die Hose rutschte mir von den Hüften, die Brille von der Nase. Wohl die Auswirkung dessen, dass heraus musste, was sich in meinem Geist angesammelt hatte. Zweifellos würde das, was immer das in mir auslöste, auch den Leser rasant mitreißen. Bei dem Buch geht es um eine leidenschaftliche Liebe. Liebe ist meiner Ansicht nach sowohl ideell/spirituell als auch abstrakt. Sie haben eine abstrakte Leidenschaft derart konkretisiert, dass der Leser, unter bunten Lichtern tanzend, allmählich in diesen abstrakten Begriff hinein gezogen wird. Und wenn er den Tanzsaal verlässt, ist er von einer abgeschiedenen Zweisamkeit infiziert. Und läuft tagelang unter der Wirkung dieser Liebe zu Hause herum.

Möchten Sie Ihren Lesern ein paar Worte dazu sagen, wie es Ihnen gelingt, einen abstrakten Begriff wie Liebe mit solch einer Methode zu konkretisieren?

Nein, das möchte ich nicht. Ich finde, dass die Arbeit des Schriftstellers enden sollte, sobald er den letzten Punkt gesetzt hat. Sollte darüber zu sprechen sein, mögen das Andere tun.
Ich für meinen Teil bin nicht im Geringsten neugierig auf die Bücher jener Autoren, die auf
riesigen Reklametafeln posieren wie Baseball-Spieler. Mit den Büchern, die wir schreiben, lüften wir nicht etwa eines der zahllosen Geheimnisse der Welt. Es besteht kein Anlass zu prahlen.
Hat der Ich-Erzähler Angst vor der Liebe oder flüchtet er davor, wie es auf dem Klappentext
steht? Welchen Beitrag leistet die Erschaffung eines solchen Dilemmas für die Literatur?
Ich glaube nicht, dass man beim Schreiben daran denkt, welchen Beitrag das
Geschriebene für die Literatur haben könnte, was die Leute sagen werden oder nicht, ob es
veröffentlicht wird oder nicht, ob es gelesen wird oder nicht. Ich denke eher, das der Schreiber bemüht ist, mit dem Stoff, den er hat, das Bestmögliche zu erschaffen. Ich habe es genauso gemacht. Das Buch ist beendet, meine Verbindung zum Protagonisten auch.

Wir kennen Sie auch durch Ihre Erzählungen. Was reizt Sie beim Schreiben mehr,
Kurzgeschichten oder lange Erzählungen? Warum?

Meiner Ansicht nach ist es leicht, zu verlängern. Kürzen ist schwierig. Ich bemühe mich,
die Erzählung mit so wenigen Worten zu erzählen, wie ich es vermag. Zu viele Details langweilen mich. Erzähler sind ungeduldig. Erzählungen nehme ich, wie das Leben auch, nicht ernster als nötig. Kurzgeschichten und Novellen, das ist das Maß meiner Feder.

Gab es Schriftsteller, die Sie beeinflusst haben? Und: Woraus schöpfen Sie Ihre Themen?

Nein, gab es nicht. Denn ich habe erst nach Erscheinen meiner ersten drei Bücher zu
lesen begonnen, recht spät also. Es mag unüblich sein, aber ich hatte zuvor tatsächlich nur
wenige Bücher gelesen. Nur eines davon habe ich nicht vergessen: “Utanmaz Adam” von Hüseyin Rahmi Gürpınar. Und zu der Frage, woraus ich schöpfe: Jeder ist selbst genug Material, um Werke daraus zu erschaffen. Um sich diesbezüglich zu bereichern, ist nach meiner Ansicht Musik eine ergiebige Quelle. Ich meine gute Musik, nicht banalen Lärm.
Schreiben Sie zurzeit an einem Roman oder einer Novelle?
Ein Buch, das man als Fortsetzung bzw. Ergänzung zu “Süße Schokolade” und “Streifzüge”
betrachten könnte, ist fertig. Es trägt den Titel: “Gegen Ende der Nacht” und wartet auf die
Veröffentlichung. Unabhängig davon sammle ich weiterhin Kurzgeschichten.

Vielen Dank, dass Sie mir ein wenig von Ihrer kostbaren Zeit gewidmet und meine Fragen
beantwortet haben …

Keiner von uns nutzt seine begrenzte Zeit auf diesem Planeten in angemessener Weise,
denke ich. Wir sehen zu, dass wir den Tag irgendwie herumkriegen. Nichts Brauchbares wird künftig bleiben. So wie ich nicht stolz auf die bin, die mir dieses Erbe hinterlassen haben, sehe ich, dass auch die Nachwelt nicht stolz auf uns sein wird. Das war mein erstes Interview. Ich bin froh, dass es zu Ende ist.

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